Virtuelle Realität ist – so ist zumindest immer wieder zu hören – das nächste große Ding. In Zeiten, in denen inflationär über Digitalisierung, Künstliche Intelligenz und das Verwischen der Grenzen zwischen analogem und digitalem Leben gesprochen wird, verwundert das kaum. Doch während meist vor allem Folgen für Wirtschaft und Arbeitsmarkt in den Blick genommen werden, wird ein weiterer Bereich, der sich durch VR und AR verändern könnte, kaum betrachtet: die Sexualität. Dass technologische Entwicklungen einen Einfluss auf den Sex haben, ist kaum von der Hand zu weisen – vom Kondom über die Pille bis hin zu batteriebetriebenen Sexspielzeugen haben technische Entwicklungen immer wieder großen Einfluss gehabt. Doch wie sieht es mit VR und AR aus?
VR und AR – technische Entwicklungen in der Sexualität
Bereits heute kommen VR und AR im Bereich der Sexualität zum Einsatz – wenngleich sie nicht in der breiten Masse eingesetzt werden. Zu denken ist hier vor allem an VR-Brillen, die es ermöglichen, in eine virtuelle Welt einzutauchen. Was für Videospiele längst bekannt ist, funktioniert auch mit Pornografie. Wer sich eine VR-Brille aufsetzt, sie mit seinem PC verbindet und in dafür geschaffene Welten eintaucht, konsumiert nicht länger nur passiv, sondern kann sich frei durch virtuelle Räume bewegen – und dort sexuell aktiv werden.
Möglich ist das auf unterschiedlichen Wegen. So existieren etwa virtuelle Sexclubs, die von echten Menschen besucht werden. Sie erscheinen hier als Avatare, können sich frei bewegen und interagieren. Berührungen werden dabei mitunter über per Bluetooth synchronisierte Sexspielzeuge und Sensoren auf den eigenen analogen Körper übertragen. Daneben existieren auch klassischere Pornoszenarien. So besteht etwa die Möglichkeit, virtuelle Sexräume zu besuchen, in denen sich rein fiktive Avatare, computergesteuerte Figuren, befinden. Diese können meist in Aussehen sowie Verhalten an die eigenen Wünsche angepasst werden. Auch das Eintauchen in klassische Pornos ist möglich. Mittels VR-Brille kann hier die Perspektive einer Darstellerin oder eines Darstellers eingenommen werden.
AR-Angebote im Bereich der Sexualität, bei denen die Nutzenden nicht in eine vollkommen virtuelle Welt eintauchen, sondern einzelne digitale Elemente via AR-Brille in die analoge Welt projiziert werden, sind hingegen deutlich seltener. Auch hier ist jedoch – analog zu Videospielen – mit entsprechenden Entwicklungen zu rechnen.
Vorteile der virtuellen Sexualität
Die Vorteile dieser Form der virtuellen Sexualität liegen auf der Hand. So ist es mittels VR und AR möglich, physische und soziale Barrieren zu überwinden. In einer Epoche, die von zunehmender Einsamkeit und sozialen Ängsten geprägt ist, kann die virtuelle Sexualität eine niedrigschwellige Möglichkeit darstellen, auf intime Weise mit anderen Menschen in Kontakt zu treten. Die Hürden sind dabei auch sozial niedriger: Niemand muss sein Gesicht zeigen, wirklich vor die Tür und auf Fremde zugehen. Dennoch besteht die Möglichkeit, intime Bedürfnisse zu kommunizieren und zu befriedigen – was ohne die entsprechenden virtuellen Räume nicht möglich wäre. Gegenüber einem reinen Chat oder dem passiven Pornokonsum kommen bei VR-Sex aktive Momente sowie eine gesteigerte Körperlichkeit hinzu.
Doch auch abseits von Einsamkeit, sozialen Ängsten und fehlenden analogen Kontakten kann der VR-Sex Vorteile mit sich bringen. Zu denken ist hier etwa an Fernbeziehungen, in denen physische Intimität nur selten möglich ist. Virtuelle Realität bringt hier eine gegenüber Telefon- oder Caminteraktionen physischer und damit echter erscheinende Möglichkeit, sexuell zu interagieren, mit sich.
Soziologische und psychologische Betrachtungen – viele Nachteile?
Doch ist all das tatsächlich ausschließlich positiv zu betrachten? Technikenthusiastinnen und -enthusiasten sehen in VR und AR aus den beschriebenen Gründen eine Möglichkeit einer Art sexuellen Revolution: Orts- und zeitunabhängig, ohne soziale Hemmschwellen, die völlige Befriedigung jedes Bedürfnisses. Weniger unzufriedene Männer, weniger Frauen, die Escort werden wollen. Tatsächlich jedoch lässt eine stärker soziologische und sozialpsychologische Perspektive erkennen, dass hinter der Implementierung von VR im Bereich der Sexualität auch viele Gefahren lauern.
Sexuelle Übergriffe im virtuellen Raum
So kann bereits in Chaträumen ein weitgehend ungehemmtes Verhalten beobachtet werden, das meist auf die Anonymität der Kommunikation zurückgeführt wird: Wer seine Identität verstecken kann, schert sich seltener um Konsequenzen seines Handelns. In einer virtuellen Welt, in der Berührungen und sexuelle Aktivitäten möglich sind, die teilweise via Bluetooth auf den Körper übertragen werden, hätte das fatale Konsequenzen. Sexuelle Übergriffe sind mit VR auch im virtuellen Raum möglich – und können Menschen damit letztlich in ihren eigenen vier Wänden treffen. Dass das kein bloßes Horrorszenario ist, zeigen dabei Erfahrungen mit Facebooks Metaverse: In einer Testphase ist es hier zu sexuell übergriffigem Verhalten gekommen.
Übertrag problematischer Verhaltensweisen in die analoge Welt
Hinzu könnte eine Art Normalisierungseffekt kommen: Wer im virtuellen Raum erlebt, dass Sexpartner*innen immer und überall zur Verfügung stehen, dass übergriffiges Verhalten nicht sanktioniert wird und der eigenen Bedürfnisbefriedigung kaum Grenzen gesetzt sind, könnte daraus – insbesondere, wenn es sich um den Großteil der eigenen sexuellen Erfahrungen handelt – ein bestimmtes Denk- und Handlungsmuster auch für die analoge Welt ableiten. Das wiederum hätte Konsequenzen, die etwa äquivalent zur Orientierung an herkömmlichen Pornos zu denken sind, letztlich jedoch darüber hinausgehen würden. Plakativ formuliert: Wer sein Frauen- und Sexbild von Pornhub bezieht, verhält sich bereits heute in diesem Bereich kaum wertschätzend und neigt zu Objektifizierungen, Grenzüberschreitungen und weiterem problematischen Verhalten. Mit der Übersteigerung der diesbezüglichen Möglichkeiten durch VR dürften auch diese Probleme zunehmen.
Gleichwertigkeit des Erlebens?
Darüber hinaus stellt sich ganz abseits der gesellschaftlichen Ebene die Frage, inwieweit virtuelle Interaktionen zwischenmenschliche Kontakte ersetzen können. Was bereits bei unverfänglichen Videocalls auffällt, dürfte im Bereich der Sexualität kaum übersehbar sein: Eine wesentliche Ebene der Interaktion fehlt. Vor diesem Hintergrund ist es fraglich, ob die virtuelle Sexerfahrung der physischen als gleichwertig betrachtet werden wird.
Ethik, Gesellschaft, Datenschutz – Regulationen für den VR-Sex?
Die Diskussion der Vor- und Nachteile zeigt, dass es sich bei VR und AR im Bereich der Sexualität um eine ambivalente Angelegenheit handelt, die weder unreflektiert gefeiert noch verdammt werden sollte. Deutlich wird vor allem, dass eine kluge Planung entsprechender Angebote nötig ist, wenn sie keinen Schaden anrichten und stattdessen ihr Potential entfalten sollen. Das gilt insbesondere bezüglich der beschriebenen ethischen und sozialen Probleme, die sie mit sich bringen. Zudem ist auch die Datenschutzebene zu beachten: Wer sich in einen virtuellen Sexraum begibt, ist in dieser Hinsicht sehr vulnerabel, da intimste Daten, etwa zur sexuellen Orientierung, Vorlieben usw. gesammelt werden könnten.
Eine starke Regulierung entsprechender Angebote erscheint vor diesem Hintergrund aus vielen Gründen nötig. Wie sie umgesetzt werden kann, ist dabei – auch da es sich um ein relativ neues Phänomen handelt – noch völlig offen. Insbesondere das Austarieren von Datenschutz und Verhaltenskontrolle zur Verhinderung von Übergriffen dürfte einige Probleme mit sich bringen, da beide Faktoren essentiell erscheinen.
Ausblick: Welche Rolle werden VR und AR in der Sexualität spielen?
Welche Rolle VR und AR in den kommenden Jahren und Jahrzehnten im Bereich der Sexualität spielen werden, ist heute noch kaum absehbar. Beobachten lässt sich, dass entsprechende Anwendungen entwickelt und genutzt werden. Gleichzeitig besteht ein großes gesellschaftliches Problembewusstsein hinsichtlich der Gefahren, die virtuelle Sexualitätsräume mit sich bringen. Zu rechnen ist daher insbesondere mit weiteren Debatten und vorsichtigen Produktentwicklungen. Möglicherweise werden vor allem Light-Varianten, die die Interaktion mit bereits bekannten Partner*innen oder rein virtuellen Figuren ermöglichen, Verbreitung finden, da die Missbrauchsrisiken hier am geringsten sind.